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Niels Höpfner

 

Furcht und Elend der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert

 

Über Zensur & Exil

 

I.

 

Die Verfolgung der Literatur und ihrer Autoren durch die jeweils Herrschenden hat in Deutschland eine lange unrühmliche Tradition. Meistens ist nur im Gedächtnis, falls überhaupt, daß die Nationalsozialisten die Grausamkeit gegen das gedruckte Wort und seine Urheber ins Absolute perfektionierten, aber kaum, daß bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Unterdrückung einen beschämenden Höhepunkt erreichte.

 

Drei Methoden der Repression waren gang und gäbe: Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit durch Einkerkern und auf die geistige Unversehrtheit durch Zensur, woraus, keineswegs selten, die Vertreibung ins Exil resultierte. Hier soll jetzt zunächst Rede sein von der Zensur.

 

Auch auf dem Gebiet der Zensur war Preußen - wie bei vielen anderen wichtigen politischen Belangen - Vorreiter in Deutschland. Die Zensur der Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht zurück auf das am 19. Dezember 1788 erlassene preußische Zensuredikt, in dessen Präambel es heißt:

 

"Ob wir gleich von den großen und mannigfachen Vortheilen einer gemäßigten und wohlgeordneten Preßfreiheit zur Ausbreitung der Wissenschaft und aller gemeinnützigen Kenntnisse vollkommen überzeugt und daher solche in unseren Staaten möglichst zu begünstigen entschlossen sind, so hat doch die Erfahrung gelehrt, welche schädliche Folgen eine gänzliche Ungebundenheit der Presse hervorbringen, und wie häufig dieselbe von unbesonnenen oder gar boshaften Schriftstel­lern zur Besprechung gemeinschädlicher praktischer Irrthümer über die wichtigsten Angelegenheiten der Menschen, zur Verderbniß der Sitten durch schlüpfrige Bilder und lackende Darstellungen des Lasters, zum höhnischen Spott und boshaften Tadel öffentlicher Anstalten und Verfügungen, wodurch in manchen nicht genugsam unterrichteten Gemüthern Kummer und Unzufriedenheit darüber erzeugt und genährt werden und zur Befriedigung niedriger Privatleidenschaften, der Verleumdung, des Beides und der Rachgier, welche die Ruhe guter und nützlicher1 Staatsbürger stören, auch ihre Achtung vor dem Publifco kränken, besonders in den sogenannten Volksschichten bisher gewiß gebraucht worden ist.“

 

Da dieses fast zweihundert Jahre alte Dokument den Regeln klassisch-moderner Argu­mentation folgt, erübrigt sich ein Kommentar. Die Hauptbestimmungen des Gesetzes waren folgende:

 

"1. Alle Schriften müssen der Censur vorgelegt und dürfen ohne deren Erlaubnis weder gedruckt noch verkauft werden. 2. Die Censur hat die Aufgabe, demjenigen zu steuern, was wider die allgemeinen Grundsätze der Religion,  wider den Staat  und  sowohl  moralischer  als  bürgerlicher Ordnung entgegen ist, oder zur Kränkung der persönlichen  Ehre  oder  des  guten Namens  anderer abzielt."

 

In Punkt 7 der Bestimmungen wurde festgelegt,  daß  nach  erteilter  Druckerlaubnis Verleger und Drucker von jeder Verantwortung frei seien, was jedoch nicht für den Autor galt: "...dem Verfasser aber kann eine gleiche, vollständige Befreiung nicht zu statten kommen; wenn sich finden sollte, daß er den Censor zu übereilen, seine Aufmerksamkeit zu hintergehen, oder sonst durch unzulässige Mittel die Erlaubnis zum Druck zu erschleichen gewußt habe, so bleibt er deshalb bei einzelnen, in einem großen Werke vorkommenden unerlaubten Stellen nach wie vor verantwortlich.“

 

1819 sollte  dieses Zensurgesetz liberalisiert   werden,   aber dieses Vorhaben vereitelten die Karlsbader Beschlüsse vom August desselben Jahres, die aus Furcht vor revolutio­nären Bestrebungen zustande kamen:  1815 war in Jena die Burschenschaft gegründet worden, die u.a. der  Zersplitterung  Deutschlands  in  38  Bundes-Staaten den Gedanken nationaler Einheit entgegen­ hielt und 1817 eine mächtige Demonstration mit ihrem Wartburgfest veranstaltet hatte; das Ende der staatlichen Geduld besiegelte dann die Ermordung  des  reaktionären Schriftstellers Kotzebue durch den Studenten Sand.

 

In den Karlsbader Beschlüssen werden nicht nur die Universitäten an die Kette gelegt und die Burschenschaften verboten, es wird auch eine Vorzensur angeordnet für "Schriften,  die  in  der  Form täglicher Blätter  oder  heftweise  erscheinen, desgleichen solche,  die nicht über 2o Bogen im Druck stark sind".

 

Das bedeutete praktisch: Vorzensur der Presse und aller Bücher, die dünner als 2o Bogen, also 32o Seiten, waren, wobei anscheinend die Überlegung Pate gestanden hat, dickere Bücher fänden keine Leser und das Volk könne sie sich finanziell sowieso nicht leisten. Auf der Grund­lage der Karlsbader Beschlüsse einigte sich der Deutsche Bund am 2o. September 1819 darauf, die Zensur in allen deutschen Staaten einzuführen oder zu erneuern.

 

Vier Wochen später wurde auch in Preußen ein neues Zensuredikt erlassen, welches zwar das Gesetz von 1788 aufhob, im wesentlichen aber noch eine Verschärfung jenes Gesetzes brachte: Die Zensurfreiheit der Mitglieder der Akademie und der Universitäten wurde nun auch aufgehoben. Vollständig neu war die Einrichtung eines Obercensurcollegiums: es sollte über Beschwerden von Verfassern und Verlegern bei Druckverweigerung entscheiden, sollte als Oberbehörde die Erlasse der einzelnen Zensoren prüfen, als Vermittler zwischen den Zensurministern im Innen-, Außen- und Kultusministerium fungieren und sollte schließlich das Verbot der zum Debit, zum Vertrieb, ungeeigneten Bücher veranlassen. Die Behörde, die den Auftrag hatte, literarische Sünden zu rächen, war also in erster Linie das Obercensurkollegium.

 

Besonders aktiv wurde es nach der Julirevolution 183o in Frankreich, die Karl X. zur Flucht nach England zwang und den Bürgerkönig Louis-Philippe I. inthronisierte. Zwar änderte sich nicht viel an der französischen Politik, aber die Revolution hatte in ganz Europa Signale gesetzt, und es kam sogar an vielen Orten des Deutschen Bundes zu Unruhen.

 

Zum Ärger und Verdruß der Zensoren hielten sich in Paris, an revolutionärem Ort, überdies zwei deutsche Schriftsteller auf, die umstürzlerische Gedanken auch in Michels tumben Kopf schmug­gelten: Heinrich HeineHeinrich Heine

und Ludwig Börne.Ludwig Börne Heine, der von der Julirevolution nach Paris gelockt wurde, woraus sich schließlich ein lebenslanges Exil ergab, hatte sehr viel unter der deutschen und besonders der preußischen Zensur zu leiden. Ein Beispiel muß hier genügen. 1831 erschien in Hamburg Heines Buch Nachträge zu den Reisebildern. Es handelt sich dabei um Reisebilder. Vierter Teil und andere Texte. Durch sehr großzügigen Druck wurde eine Bogenzahl von 2o erreicht, und am Ende auf Seite 32o heißt es dann: "Es fehlen mir noch einige Octavseiten, und ich will deshalb noch eine Geschichte erzählen. . . "

 

Auf diese Weise entging Heines Buch zwar der Vorzensur in Hamburg und konnte ohne Einschränkungen gedruckt werden, aber an preußi­schen Adleraugen kam es nicht vorbei. Sie gehörten einem preußischen Beamten namens Karl Georg von Raumer, der in verschiedenen Ministerien länger als 5o Jahre (mit Auszeichnung) tätig war. Dieser erstattete Meldung dem Obercensurcollegium, dessen Verdikt eindeutig ausfiel: "Das Buch ist nach unserer Ansicht eins der verderblichsten Produkte, welche in der jüngsten Zeit durch die Druckpresse in das Publikum gebracht worden sind. Zum Beweise, daß es das Heiligste herabwürdigt und empörende Blasphemien enthält, durch schlüpfrige Darstellun­gen die guten Sitten beleidigt und neben gehäs­sigen Invektiven gegen Staatsinstitutionen und Staatsverwaltung sich eine schmähende Bezeichnung Friedrichs des Großen erlaubt, darüber bitten wir, auf die Stellen... [es folgen Seitenangaben] Bezug nehmen zu dürfen."

 

Größtes Entsetzen der Moralapostel dürfte, zum Beispiel, diese Heine-Passage provo­ziert haben: "Ob der liebe Gott es noch lange dulden wird, daß die Pfaffen einen leidigen Popanz für ihn ausgeben und damit Geld verdienen, das weiß ich nicht; wenigstens würde ich mich nicht wundern, wenn ich mal im Hamb. Unpart. Correspondenten läse: daß der alte Jehova Jedermann warne, keinem Menschen, es sey wer es wolle, nicht einmal seinem Sohne, auf seinen Namen Glauben zu schenken. Ueberzeugt bin ich aber, wir werden’s mit der Zeit erleben, daß die Könige sich nicht mehr hingeben wollen zu einer Schaupuppe ihrer adligen Verächter, daß sie die Etiquetten brechen, ihren marmornen Buden entspringen, und unwillig von sich werfen den glänzenden Plunder, der dem Volke imponiren sollte, den rothen Mantel, der scharfrichterlich abschreckte, den diamantenen Reif, den man ihnen über die Ohren gezogen, um sie den Volksstimmen zu versperren, den goldenen Stock, den man ihnen als Scheinzeichen der Herrschaft in die Hand gegeben - und die befreyten Könige werden frey seyn wie andre Menschen, und frey unter ihnen wandeln, und frey fühlen und frey heurathen, und frey ihre Meinung bekennen, und das ist die Emanzipazion der Könige." Prompt wurde Heines Buch in Preußen verboten. Aber es geschah zu spät. Lediglich 36 Exemplare konnten in Berlin konfisziert werden.

 

Wie sehr das Vorgehen der Zensur Heine trotzdem verletzte, zeigen zwei Verse im 13 Jahre später veröffentlichten Wintermärchen, die in Zusammen­hang mit Heines Überlegung stehen, wie es in Deutschland aussähe, wenn die Römer nicht von den Cheruskern geschlagen worden wären, zwei Verse, die dem Schreibtischtäter Raumer klägliche Un­sterblichkeit verschaffen: "Der Raumer wär' kein deutscher Lump,/ Er wäre ein römischer Lumpacius..."

 

 

*

 

Auch Ludwig Börne lockte die Juli­revolution nach Paris, wo er sich bereits 1822 für längere Zeit aufgehalten hatte. Die Auseinander­setzung mit der Zensur war für Börne ein zentrales Problem schon lange vor 183o. Bereits in seinen frühen Theaterkritiken versucht er sie zu unterlaufen, indem er nur scheinbar über Literatur schreibt, sich in Wirklichkeit aber mit der politischen Situation seiner Zeit auseinander­setzt. Börne war wie Heine ein Meister im "Schmuggelhandel der Freiheit", wie der Schrift­steller Karl Gutzkow die Tarnung der Literatur einmal nannte. Trotzdem brachte Börne die Zensur 182o einmal 14 Tage Untersuchungshaft ein, was ihn aber nicht davon abschreckte, auch weiterhin hintergründige Texte zu publizieren.

 

So trägt ein als Reiseschilderung getarnter politischer Dis­kurs, der ein Jahr später erschien, den Titel Monographie der deutschen Postschnecke. Beitrag zur Naturgeschichte der Mollusken und Testaceen. Die ersten Sätze lauten dann: "Es ist sehr einfältig, daß ich gleich vorn sage: ich werde mich in dieser Abhandlung über vaterländische Postwägen satirisch auslassen; denn indem ich durch dieses Geständnis die Überraschung störe, übertrete ich die heilsamsten Polizeigesetze der Redekunst. Aber kann ich anders? Ist nicht zu fürchten, jene gelehrte Überschrift werde alle Leser abschrecken, wenn sie nicht bald erfahren, daß es damit Scherz gewesen? Sie sollte aber keinen abschrecken als den Zensor, zu seinem und meinem Vorteile, und da dieser jetzt schon getäuscht ist und der falsche Paß der verdächtigen Abhandlung glücklich über die Grenze geholfen hat, so ist längere Verstellung unnötig."

 

Nicht nur Reiseliteratur eignete sich bestens als Versteck für politisches Engagement, auch in der Form von Briefen ließ es sich, zumindest für kurze Zeit, verbergen, wie die Briefe aus Paris von Börne beweisen, die er von der Hauptstadt der Revolution nach Deutschland schickte. Als im Oktober 1831 die ersten 48 als Buch erscheinen, ist die Auflage von 2ooo Exemplaren längst vergriffen, ehe die Behörden eingreifen können. Nach dem Verbot sind sie weiterhin im Handel unter dem unverfänglichen Titel Mittheilungen aus dem Gebiete der Länder- und Völkerkunde - bis sie erneut verboten werden.

 

Ludwig Börne erscheint heute als einer der integersten deutschen Autoren im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Aufwecken wollte er Deutschland aus seinem "Todesschlaf", der radikale Demokrat, dessen schriftstellerisches Ethos Anpassung und Unterwerfung im Wort niemals dulde­te. In Börnes Ankündigung der Gesammelten Schrif­ten findet sich sein literarisches Credo, streng und unerbittlich, das gleichzeitig den weiten Ab­stand zu den Dichtern der Klassik markiert: "Was ich immer gesagt, ich glaubte es. Was ich geschrieben,  wurde mir von meinem Herzen vorgesagt,  ich mußte.  Darum,  wer  meine Schriften liebt, liebt mich selbst. Man würde lachen, wenn man wüßte, wie bewegt ich bin, wenn ich die Feder bewege. Das ist recht schlimm, ich weiß es, denn ich begreife, daß ich darum kein Schriftsteller bin. Der wahre Schriftsteller soll tun wie ein Künstler. Seine Gedanken, seine Empfindungen, hat er sie dargestellt, muß er sie freigeben, er darf nicht in ihnen bleiben, er muß sie sachlich machen. Ach, die böse Sachdenklichkeit, es wollte mir nie damit glücken! Ich weiß nicht, ob ich mich darüber betrüben soll. Es muß wohl etwas Schönes sein um die Kunst. Die Fürsten, die Vornehmen, die Reichen, die Glücklichen, die Ruhigen im Gemüte lieben sie. Aber sie sind so gerecht, die Kunstkenner, daß mich oft schaudert. Nicht was die Kunst darstelle, es kümmert sie nur, wie sie es darstelle. Ein Frosch, eine Gurke, eine Hammelskeule, ein Wilhelm Meister, ein Christus - das gilt ihnen alle gleich; ja sie verzeihen einer Mutter Gottes ihre Heiligkeit, wenn sie nur gut gemalt. So bin ich nicht, so war ich nie."

 

 

*

 

 

Von der Zensur besonders arg gebeu­telt wurden die vier Schriftsteller Ludolf Wienbarg, Theodor Mundt, Karl Gutzkow und Heinrich Laube,


Ludolf WienbargTheodor Mundt


Karl GutzkowHeinrich Laube

die in der Literaturgeschichte die Bezeichnung Junges Deutschland erhielten. Obwohl die Verbindungen der Autoren untereinander äußerst locker waren und es nicht zu einem förmlichen Gruppenzusammenschluß kam, einte sie doch, allerdings nur am Anfang, ihr progressives Denken und Schreiben.

 

Populär machte den Begriff Junges Deutschland Ludolf Wienbarg mit seinem Buch Aesthetische Feldzüge, in dem diese Worte der Zueignung stehen: "Dir junges Deutschland widme ich diese Reden, nicht dem alten. Ein jeder Schriftsteller sollte nur gleich von vorn herein erklären, welchem Deutschland er sein Buch be­stimmt und in wessen Hände er dasselbe zu sehen wünscht. Liberal und illiberal sind Bezeichnungen, die den wahren Unterschied keineswegs angeben. Mit dem Schilde der Liberalität ausgerüstet sind jetzt die meisten Schriftsteller, die für das alte Deutschland schreiben, sei es für das adlige, oder für das gelehrte, oder für das philiströse alte Deutschland, aus welchen drei Bestandtheilen dasselbe bekanntlich zusammengesetzt ist. Wer aber dem jungen Deutschland schreibt, der erklärt, daß er jenen altdeutschen Adel nicht anerkennt, daß er jene altdeutsche, todte Gelehrsamkeit in die Grab­gewölbe ägyptischer Pyramiden verwünscht, und daß er allem altdeutschen Philisterium den Krieg erklärt und dasselbe bis unter den Zipfel der wohlbekannten Nachtmütze unerbittlich zu verfolgen Willens ist."

 

Die Lebensläufe Wienbargs, Gutzkows und Laubes weisen für die Jugendzeit viele Parallelen auf: Alle drei sind Handwerkersöhne und gehören derselben Generation an: Ludolf Wienbarg wurde 18o2 geboren, Karl Gutzkow 1811 und Heinrich Laube 18o6. Nach dem Besuch des Gymnasiums studieren alle drei anfänglich Theologie und werden burschenschaftlich aktiv. Wie Wienbarg ist auch Laube eine Zeitlang als Hauslehrer tätig. Der 18o8 geborene Theodor Mundt war der Sohn eines Registrators und absolvierte ein juristisches und philosophisches Studium. Alle Jungdeutschen promo­vierten an einer Universität, an der sie nie stu­diert hatten, bei allen erfolgte die Promotion in absentia.

 

Wie Wienbarg, der mit seinen Aesthetischen Feldzügen eher ungewollt eine Programmschrift geliefert hatte, setzten sich auch die übrigen Autoren mit ihren Veröffentlichungen in die Nes­seln der Zensur. Karl Gutzkow eckte an mit seinem 1835 erstmals erschienenen Roman Wally, die Zweiflerin, einer kruden Harmlosigkeit aus heutiger Sicht, wobei bereits Sätze wie die folgenden als anstößig galten: "...im Religiösen stand sie oft wie ein Wanderer, der den Weg verfehlt zu haben glaubt, sich in der Gegend umblickt und mit seinem Ortssinne sich zu orientieren sucht. Es war ein ganz bewußtloses Sinnen, ein träumerisches Fühlen, dem sie sich tastend und anpochend hingab. Von einer Reflexion, einer zusammenhängenden Untersuchung konnte bei Wally nicht die Rede sein. Sie litt, weil sie ihre selige Mutter liebte, an einem religiösen Tick, einer Krankheit, die sich mehr in hastiger Reizbarkeit als in langem Schmerze äußerte. Sie war wie in einem Zimmer, das sich plötzlich mit Rauch füllt und wo man nicht anders helfen kann, als ans Fenster zu springen, es aufzureißen und mit einem unmäßigen Gestus nach frischer Luft zu schöpfen."

 

In Preußen erfolgte sofort ein Verbot des Gutzkow-Romans, das vom Obercensurcollegium mit folgendem Gutachten begründet wurde: "Dieses Buch, übrigens in jeder Beziehung eine werthlose Hervorbringung, sucht sich durch die frechste Verunglimpfung des Christenthums, durch die verabscheuungswürdigsten Schmähungen gegen den göttlichen Stifter des Christenthums und überhaupt durch die zügellosesten Verhöhnungen jedes religiösen Glaubens bemerklich zu machen. Wir sehen uns umsomehr veranlaßt, auf das Verbot der gedachten, höchst verwerflichen Schrift und die Entfernung derselben aus dem Buchhandel, sowie aus den Leihbibliotheken und Lesegesellschaften anzutra­gen, als die Popularität des Vortrags und manche dem großen Haufen der Leser zusagende witzige Wendungen, welche dem schon längst übelberüch­tigten Verfasser zu Gebote stehen, die schädlichsten Wirkungen von der ferneren Verbrei­tung des ruchlosen Machwerks besorgen zu lassen."

 

Wie weit das Verbot ausgeführt wurde, ist unklar. Als die Allgemeine Zeitung später höhnte: "Alles eile in die Lesegesellschaf­ten, um die verbotene Frucht zu naschen", verlautbarte aus dem Berliner Polizeipräsidium, "das sei unmöglich, da streng nach dem Verbot verfahren würde".

 

Mit einem aus heutiger Sicht sehr harmlosen Text, mit der sogenannten Posthorn-Symphonie, dem Einleitungs-kapitel seines Romans Madonna. Unterhaltungen mit einer Heiligen, geriet 1835 Theodor Mundt ebenfalls in die Mühlen der Zensur. Hier ein beispielhafter Textausschnitt: "Ich will mir selbst etwas blasen! Jetzt fange ich an, es zu glauben, daß von einer allgemeinen Tonlosigkeit dies unser Zeitalter ergriffen sein muß, denn auch die deutschen Postillons lassen jetzt ihr schmetterndes Mund­stück ungenutzt und schläfrig herunterhängen, und jeder sagt mir mißmuthig, ihm sei das Horn verstopft. Auf meiner ganzen Reise durch Deutschland habe ich noch keinen vernünftigen Schwager gehabt, der mir und dem lauschenden Waldecho ein lustiges, herzerfrischendes Trarara! Trara! Trara! zum Besten gegeben hätte. Ihnen ist das Horn verstopft. Und ein Postillon ist doch kein deutscher Schriftsteller. Wovor fürchten sich denn die Postillons? Ist es die Censur? Sind es die großen demagogischen Untersuchungen? Mein Gott, ich will mir selbst etwas blasen!"     

 

Der Roman Madonna.Unterhaltungen mit einer Heiligen hatte für Theodor Mundt zur Folge,  daß  sein  Habilitationsverfahren  an  der Berliner Universität ausgesetzt wurde.

 

Am übelsten spielte die staatliche Macht Heinrich Laube mit, den sie, vorgeblich wegen burschenschaftlicher Aktivitäten, anderthalb Jahre in der Festung Muskau einkerkerte, vom 17. Juli 1837 bis zum 17. Januar 1839. Vorausgegangen waren Verhöre, eine längere Untersuchungshaft, Polizeiaufsicht, natürlich auch Zensur und Verbot mehrerer seiner Bücher, darunter die zweibändige Novellensammlung Das junge Europa, die Briefe eines Hofraths oder Bekenntnisse einer jungen bürgerlichen Seele, später betitelt Politische Briefe, und auch Die Reise-Novellen. Die härtere Gangart der Staatsmacht gegenüber ihren ungeliebten Literaten fußt auf dem Verbot der Schriften des Jungen Deutschland, das der Bundestag am l0. Dezember 1835 beschloß. In diesem  s c h ä n d l i c h e n Dokument deutscher Geistesgeschichte heißt es:

 

"Nachdem sich in Deutschland in neuerer Zeit, und zuletzt unter der Benennung 'das junge Deutschland’ oder 'die junge Literatur' eine literarische Schule gebildet hat, deren Bemühungen unverhohlen dahin gehen, in belletristischen, für alle Klassen von Lesern zugänglichen Schriften die christliche Religion auf die frechste Weise anzugreifen, die bestehenden Verhältnisse herab­zuwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zu zerstören: so hat die deutsche Bundesversammlung - in Erwägung, daß es dringend notwendig sei, diesen verderblichen, die Grundpfeiler aller gesetzlichen Ordnung untergrabenden Bestrebungen durch Zusammenwirken aller Bundesregierungen so­fort Einhalt zu tun, und unbeschadet weiterer, vom Bunde oder von den einzelnen Regierungen zur Erreichung des Zweckes nach Umständen zu ergreifenden Maßregeln - sich zu nachstehenden Bestimmungen vereiniget:

 

Sämtliche deutschen Regierungen übernehmen die Verpflichtung, gegen die Verfasser, Verleger, Drucker und Verbreiter der Schriften aus der unter der Bezeichnung 'das junge Deutschland' oder 'die junge Literatur' bekannten literarischen Schule, zu welcher namentlich Heinr. Heine, Karl Gutzkow, Heinr. Laube, Ludolf Wienbarg und Theodor Mundt gehören, die Straf- und Polizei-Gesetze ihres Landes, sowie die gegen den Mißbrauch der Presse bestehenden Vorschriften, nach ihrer vollen Strenge in Anwendung zu bringen, auch die Verbreitung dieser Schriften, sei es durch den Buchhandel, durch Leihbibliotheken oder auf sonstige Weise, mit allen ihnen gesetzlich zu Gebot stehenden Mitteln zu verhindern."

 

Als Heine gegen Zusicherung freien Geleits sich vor der Bundesversammlung verteidigen will, wird ihm diese Möglichkeit verweigert. Drei der vier anderen betroffenen Autoren führen ein Trauerspiel  deutscher  Intellektueller  auf:  sie widerrufen.

 

Mit folgenden großen Sätzen, die in den Modernen Charakteristiken stehen, hatte Heinrich Laube sich in die Literatur eingeführt: "Die einzelnen Höhen verschwinden, aber   die   ganze   Masse   rückt   höher,   die Gebirgsgegend der Aristokratie schwindet mehr und mehr, die Thäler werden ausgefüllt, es entsteht eine demokratische Hochebene. Und es ist dies ein Zeichen von Fortschritt. Große Unterschiede bekunden großen Mangel an Cultur, so im Staatsleben, so in der Literatur. Wer darüber klagt, daß uns die Häupter fehlen, versteht die Zeit, nicht; einzelne Häupter sind Haupt-gebrechen - was früher Einzelne vermochten, vermögen jetzt Viele, Wissenschaft und Kunst sind aus geschlossenen Gemächern auf die Märkte gestiegen - ist das nicht besser? Das Verallgemeinern der Güter ist die höchste Aufgabe des Cultivierens. Wenn man erst die Periode der Welt - und der dahinein gehörenden Literaturgeschichte nicht mehr nach Namen, sondern nach Begriffen benennt, so ist die Geschichte unendlich weit fortgeschritten. Das Jammern der alten Leute, daß jetzt Alles schreibt, Alles sich um Alles bekümmert, ist ein Beweis, daß die Leute alt sind und die Jugend der Zeit und deren Sprünge nach ihren alten Beinen messen. Das Endziel der Civilisation ist, daß niemand mehr nöthig hat, zu schreiben und zu belehren, weil Alles schreiben kann, Alles belehrt ist - um dahin zu kommen, muß aber erst Alles geschrieben und gelehrt haben."

 

Mit diesen  Sätzen, die auch nicht Furcht vor dem Kerker entschuldigt, trat Laube aus der Literatur wieder aus, auch wenn er ein fünfzigbändiges Gesamtwerk hinterließ:

 

"Als ich Hrn. Dr. Gutzkow Beiträge zu der beabsichtigten 'deutschen Revue'  zusagte, da geschah dies keineswegs in der Art, daß etwaige Tendenzen des sogenannten  'jungen Deutschland', welche die bestehende Civilisation angreifen, oder gar stören und bedrohen könnten, durch meine Beiträge gefördert werden sollten. Im Gegentheil erklärte ich unumwunden, wie ich mit jedwedem Ultraismus der Art nichts zu schaffen hätte, und eine eigentlich solidarische Theilnahme mir nicht zupaßte.- Diese Erklärung glaubte ich schuldig zu seyn, da ich mich mit jenem 'jungen Deutschland', dem ich nicht angehöre, solidarisch betroffen sehe.

Naumburg, den 13. Dec. 1835. Dr. Heinrich Laube."

 

Laube wurde später Burgtheaterdirektor in Wien (einer der besten). Aber die Universitätskarriere Theodor Mundts blieb lebenslang ruiniert, auch nachdem er am 14. April 1842 auf dem Berliner Polizeipräsidium Abbitte geleistet hatte, was durch eine Kabinettsorder Friedrich Wilhelms IV. ermöglicht worden war. Auch Gutzkow distanzierte sich vom Jungen Deutschland, vorsichtiger allerdings, auf diplomatischen Kanälen, was ihm ebenfalls die Entlastung durch den König bescherte. Der einzige des glücklosen literarischen Kleeblatts, der standhaft blieb, war Ludolf Wienbarg, er widerrief nicht. Nach Verweigerung einer Professur schlug er sich als Redakteur durch und nahm 1848 als Freiwilliger an der schleswig-holsteinischen Erhebung gegen Däne­mark teil.

 

Der  Chef-Historiker  Heinrich  von Treitschke behauptet: "Von einer ernsthaften Verfolgung war keine Rede..." Diese Beurteilung der Vorgänge stellt dann doch eine starke Untertreibung dar. In seinem  1900  erschienenen  und  auch  heute  noch höchst lesenswerten Buch Das Junge Deutschland und die  preußische Censur  schreibt  der Autor Ludwig Geiger: "Die Verfolgung war ernsthaft genug, das Leiden groß, die Schädigung, die die Einzelnen erfuhren,  empfindlich...  es wurde ihnen schwer, einen Verleger  zu  finden,  noch  schwerer,  von diesem  ein   angemessenes   Entgelt   für   ihre Produktionen  zu  erlangen, deren  Verbreitung gehemmt  war.  Sie  erfuhren  Schädigung  in  der Ausbildung ihres Talents... Sie nahmen Schaden an ihrem Charakter: die traurige Selbsterniedrigung, deren Zeuge wir waren, lag schwerlich im Wesen jener Männer begründet."

 

1978 gelangte der Germanist  Wulf Wulfing in seinem Buch Junges Deutschland zu dem Schluß: "Man kann davon ausgehen, daß die Jungdeutschen fast jede Zeile, die sie nach dem Bundestagsbeschluß drucken lassen wollen, auch zum Druck  befördern  können.  Nur:  Sind es  noch dieselben Zeilen? Wie häufig bei derlei Regie­rungsmaßnahmen sind noch wichtiger als das, was tatsächlich an Eingriffen geschieht, die Folgen für die öffentliche Atmosphäre, die eingestandene oder nicht eingestandene Selbstzensur."

 

1848 ist zwar das Ende der Zensur gekommen, aber die Unterdrückung des geschriebenen Wortes geht weiter. Davon zeugt die für dieses Land so beschämende, aber notwendige Existenz ei­nes zweibändigen Werkes von Heinrich Hubert Houben, betitelt: Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart, Berlin/ Bre­men 1924/28 (ein Reprint erschien 1965 in Hildesheim).

 

Die Nationalsozialisten waren es dann, welche die schmähliche Tradition der Zensur zu ihrem vorläufigen Höhepunkt führten.

 

 

II.

 

Die Duplizität historischer Ereig­nisse läßt bisweilen daran zweifeln, daß Geschich­te sich nie wiederholt. So ging auch der brutalen Vertreibung vieler Schriftsteller aus Deutschland durch die Nationalsozialisten bereits ein erster Massenexodus deutscher Autoren voraus, der ungefähr hundert Jahre früher begann und bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts andauerte. Zahlreiche deutsche Schriftsteller hielten sich zeitweilig oder auf Lebenszeit in anderen europäischen Ländern oder in Übersee auf, flüchteten zur Rettung von Freiheit und Leben oder emigrierten aus Gewissensgründen.

 

Die Höhepunkte dieser frühen Emigration fallen in Zeiten stärkster politischer Opposition und härtesten Gegen-drucks der politischen Machthaber. Hierbei bilden die französische Julirevolution von 183o und die gescheiterte deutsche Revolution von 1848 zwei wesentliche historische Markierungen. Die Herrschenden reagierten, auch und gerade ge­genüber ihren literarischen Wider-sachern, mit An­griffen auf die körperliche Unversehrtheit durch Einkerkern und mit Angriffen auf die geistige Un­versehrtheit durch Zensur, woraus, keineswegs sel­ten, die Vertreibung ins Exil resultierte.

 

An ei­nige Exilautoren soll jetzt hier erinnert werden. Zur ersten Auswanderungswelle kam es in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Einen bei­spielhaft-bedeutsamen Anfang setzten Heinrich Heine und Ludwig Börne, die sich 183o, unmittelbar nach der Julirevolution, in Paris niederließen, um mit ihren Schriften das politische Erdbebenzentrum auch auf Deutschland auszuweiten. Ihr Auslandswohnsitz garantierte ihnen Schutz vor persönlicher Verfol­gung.

 

Das intellektuelle Klima im Krähwinkel-Deutschland jener Zeit muß für Querdenker unerträglich gewesen sein. Was in ihm vorging, als er an der Grenze den heimatlichen Muff hinter sich ließ, schildert Börne im zweiten seiner Pariser Briefe:

 

"Straßburg, den 7. September Die erste französische Kokarde sah ich an dem Hute eines Bauers, der, von Straßburg kommend, in Kehl an mir vorüberging. Mich entzückte der Anblick, Es erschien mir wie ein kleiner Regenbogen nach der Sündflut unserer Tage, als das Friedenszeichen des versöhnten Gottes. Ach! und als mir die dreifarbige Fahne entgegenfunkelte - ganz unbe­schreiblich hat mich das aufgeregt. Das Herz pochte mir bis zum Übelbefinden, und nur Tränen konnten meine gepreßte Brust erleichtern. Es war ein unentschiedenes Gemisch von Liebe und Haß, von Freude und Trauer, von Hoffnung und Furcht. Der Mut konnte die Wehmut, die Wehmut in meiner Brust den Mut nicht besiegen. Es war ein Streit ohne Ende und ohne Friede. Die Fahne stand mitten auf der Brücke, mit der Stange in Frankreichs Erde wurzelnd, aber ein Teil des Tuches flatterte in deutscher Luft."

 

Begeisterung für die neue Freiheit, erkauft mit Schmerz: das gilt wohl für alle Emigranten - wie auch der anscheinend unvermeidli­che Fluch der Zurückgebliebenen, der Vaterlands­verräter! lautet. In der Vorrede zu Deutschland. Ein Wintermärchen entgegnet Heine auf einen sol­chen Vorwurf:

 

"Pflanzt die schwarzrotgoldne Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens, macht sie zur Standarte des freien Menschtums, und ich will mein bestes Herzblut für sie hingeben. Beruhigt euch, ich liebe das Vaterland ebensosehr wie ihr. Wegen dieser Liebe habe ich dreizehn Lebensjahre im Exile verlebt, und wegen ebendieser Liebe kehre ich wieder zurück ins Exil, vielleicht für immer, jedenfalls ohne zu flennen oder eine schiefmäulige Duldergrimasse zu schneiden. "

 

1835 floh ein Schriftsteller aus Deutschland, der von seinen Häschern steckbrieflich gesucht wurde: "Personal-Beschreibung. Alter:  21 Jahre,  Größe:  6 Schuh, 9 Zoll neuen Hessischen Maases,   Haare:   blond,   Stirne:  sehr  gewölbt, Augenbrauen:  blond,  Augen: grau,  Nase: stark, Mund: klein, Bart: blond, Kinn: rund,  Angesicht: oval, Gesichtsfarbe: frisch, Statur: kräftig, schlank, Besondere Kennzeichen: Kurzsichtigkeit."

 

Der Gesuchte ist kein anderer als Georg Büchner,Georg Büchner 1833 hatte er eine geheime Sektion der französischen Gesellschaft der Menschenrechte in Gießen gegründet,  hatte sich auch mit seinem Hessischen Landboten beteiligt an der von dem Pfarrer Weidig geleiteten revolutionären Propagan­da unter den hessischen Bauern. Büchner floh nach Straßburg, beendete dort sein Medizinstudium, ging 1836 als Privatdozent nach Zürich, wo er ein Jahr später an Typhus starb.

 

In einem Nachruf der Zürcher Zeitung heißt es: "Im Verlaufe weniger Tage hat der Tod zwei ausgezeichnete deutsche Männer den Reihen ihrer trauernden Landsleute und der Genossen ihres Schicksals entrissen. Am 15. Februar wurde Ludwig Börne zu Paris, am 21. Februar Georg Büchner zu Zürich beerdigt. Beide ruhen in fremdem Lande, denn beiden hatte sich das Vaterland verschlossen."

 

Die Mächtigen in der Heimat dürften kaum getrauert haben, schließlich hatten sie, zumindest was Büchner angeht, durchaus nicht grundlose Furcht vor seinem revolutionären Elan, der sich weniger in seinen Theaterdichtungen ausspricht als in direkter politischer Aktion, die Büchner mit seinem Pamphlet Der Hessische Landbote und mit der Gründung des Geheimbundes bewies. In einem Brief an die Familie vom 5. April 1833 macht Georg Büchner nicht den geringsten Hehl aus seinen Absichten, dort finden sich Sätze, die es fast schon als ein Kuriosum erscheinen lassen, daß ihr Autor später einen Platz auf dem Parnaß bürgerlicher Literatur erhielt:

 

"Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt. Wir wissen, was wir von unseren Fürsten zu erwarten haben. Alles, was sie bewilligten, wurde ihnen durch die Notwendigkeit abgezwungen. Und selbst das Bewilligte wurde uns hingeworfen wie eine erbettelte Gnade und ein elendes Kinderspielzeug… Man wirft den jungen Leuten den Gebrauch der Gewalt vor. Sind wir denn aber nicht in einem ewigen Gewaltzustand? Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, daß wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde. Was nennt Ihr denn gesetzlichen Zustand? Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh macht, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen? und dies Gesetz, unterstützt durch eine rohe Militärgewalt und durch die dumme Pfiffigkeit seiner Agenten, dies Gesetz ist eine ewige, rohe Gewalt, angetan dem Recht und der gesunden Vernunft, und ich werde mit Mund und Hand dagegen kämpfen, wo ich kann."

 

Büchner, Börne und Heine sind die drei prominentesten deutschen Exilautoren in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, aber außer ihnen emigrierten auch noch zahlreiche andere Schriftsteller, die heute keinen großen Namen mehr haben. Stellvertretend für alle anderen diese zwei: Georg Fein und Johann Wilhelm Sauerwein .

 

Georg Fein, geboren 18o3 in Helmstedt, war ausgebildeter Jurist und in den zwanziger Jahren Mitglied der Göttinger und Heidelberger Burschen­schaft, über den Journalismus kam er zur Schriftstellerei. 183o nahm Fein teil an der Vertreibung des Herzogs von Braunschweig, 1832 trat er als Redner beim Hambacher Fest auf; der darum drohenden Polizeiüberwachung entzog er sich durch Flucht nach Straßburg, über Paris gelangte er in die Schweiz, wo er von 1834 bis 1836 führend in der Handwerkerbewegung Junges Deutschland tätig war. 1836 wurde er aus der Schweiz ausgewiesen und ging über Paris und London nach Norwegen. 1843 wieder Daueraufenthalt in Straßburg. Wegen Teil­nahme am Freischarenzug gegen Luzern wurde Georg Fein verhaftet und 1845 nach Österreich ausgelie­fert.

 

Die österreichische Regierung zwang ihn, nach Amerika zu gehen, von wo er 1848 nach Deutschland zurückkehrte. Im selben Jahr war er Präsident des Demokratenkongresses in Berlin. 1849 tauchte Fein wieder in der Schweiz auf, wo er 1852 eine Fortbildungsanstalt für Erwachsene gründete, die er bis zu seinem Tod 1869 leitete - eine exemplarische Odyssee...

 

Dieser Georg Fein veröffentlichte 1835 in Straß­burg einen Band Politische Gedichte, in dem er auch sein "Flüchtlings Leben" lyrisch reflek­tiert:

 

"Püppchen weich und zart,

Wohlgenährte Magen,

Leid um uns und Klagen

Sowie Tränen spart!

Gilt es, uns zu fassen,

Stehen rein verlassen

Leutchen eurer Art.

 

Wißt, ein tücht'ger Mann

Lebt nicht um zu essen,

Kann Ballett vergessen,

Oper, Tee, Gespann,

Friert nicht auf dem Strohe,

Der Begeist'rung Lohe

Haucht ihn wärmend an.

 

Was zum Leben not,   

Darf uns keinem fehlen,

Denn die treuen Seelen

Teilen Hemd und Brot.

Eins nur, zum Erbarmen,

Mangelt noch viel Armen:

Pulver, Flinte, Schrot."

 

Weniger einen literarischen als einen agitatorischen Erfolg hatte Georg Fein mit seinem hundertstrophigen Lied Hundert Handwerker,  wo sich folgende Verse finden:

 

"Ich bin ein freier Waffenschmied,

Und mache, was vonnöten,

Das Vieh, das auf die Menschheit tritt,

Durch Hieb und Stich zu töten.

 

Ich bin der Seiler Haltermann,

Ich hoff’ auf beß're Zeiten,

Wenn man recht Stricke brauchen kann

Zu hohen Fürstlichkeiten!

 

Rotgießer bin ich, heiße Frei,

Zur Arbeit allweil munter,

Ich lob mir die Rotgießerei,

Wenn Fürstenblut darunter.

Es wird kein Volk sich je befrei'n

Durch bloß Geschwätz bei Bier und Wein.

 

Bin halt Chirurgus und Barbier, 

Geübt im Amputieren.               

Ich will es, zum Privatpläsier,    

Am Fürstenkopf probieren!

Das stumpfste Werkzeug such ich aus;

Gott gnade dann dem Fürstenhaus!"

 

 

Der 18o3 in Frankfurt/ Main geborene Johann Wilhelm Sauerwein wurde Schriftsteller, nachdem er vorher ein Theologiestudium absolviert hatte. Im Umfeld seiner Heimatstadt unterstützte er viele revolutionäre Bestrebungen von 183o bis zu seiner Flucht 1834, die notwendig wurde durch seine Mitgliedschaft in einem Geheimbund. Sauer­wein entzog sich der drohenden Inhaftierung durch Emigration in die Schweiz, wo er anfangs sehr kümmerlich von Übersetzungen lebte. 1836 wurde er Professor der deutschen und englischen Sprache und bekleidete diesen Posten bis zu einer schweren Erkrankung 1844. Im selben Jahr kehrte er nach Frankfurt zurück, wo er 1847 starb.

 

Im Exil versank Sauerwein in tiefe Schwermut und Resignation. Allabendlich konnte man ihn im Gasthaus sitzen sehen, "ein Bild der entmutigten Revolution", wie ein Zeitgenosse schrieb. Bereits 1832 war in der Schweiz Sauerweins wichtigstes Werk erschienen, das ABC-Buch der Freiheit für Landeskinder.

 

Im Vorwort heißt es: "Ihr Landeskinder!- Es hat mich oft betrübt, daß ihr so verwahrlost werdet von euern Vätern und Vormündern und daß ihr gar keine Fortschritte machen wollet in der Lehre von der Freiheit. Man hat euch geflissentlich die Meinung aufzuschwatzen versucht, als wenn die Freiheit ohne euer Zutun kommen würde, und daher kommt es, daß ihr dastehet und das Maul aufsperret wie die Schlaraffenländer. Aber glaubt es nicht, daß euch jemals die Taube ins Maul hineinfliegen wird. Seht einmal andre Landeskinder, die mit euch von gleichem Alter oder gar noch jünger sind als ihr, und ihr werdet erstaunen, was die schon für Fortschritte gemacht haben in der Freiheit. Das kommt aber daher, daß sie hübsch fleißig gewesen sind, ihre Aufgaben und Exerzitien mit Ausdauer zutage gefördert haben, und während ihr auf der Bärenhaut träumtet, so haben sie mit Mühe und Arbeit nach der Freiheit gerungen. Saget also nicht, wir sind noch nicht reif - wir sind noch zu dumm und zu einfältig für die Freiheit. Bi, seid ihr nicht stark und groß? habt ihr nicht so schöne Anlagen und Talente? - Wollt ihr denn nie frei zählen lernen?"

 

Das ABC-Buch besteht aus vierundzwanzig  alphabetisch  geordneten  Kapiteln,  die jeweils mit passenden Versen als Motto versehen sind.  Aus Charakterbildern politisch relevanter Gruppen  entsteht  ein  Sittengemälde  deutscher Zustände.  Natürlich verschont Sauerweins satiri­sches Strafgericht auch nicht den Adel, der im
ersten Kapitel so charakterisiert wird:

 

"No.1  Der Adel

Eiobobeio- schlag's Göckelchen tot:

Es legt mir kein Ei, und doch frißt mir’s mein Brot.

Der Adel <nobilitas> hat rotes, edles Blut, lange Finger, lebt auf einem großen Fuß, trägt die Nase gar hoch, geht im Trüben seiner Beute nach, bringt hoch- und hochedelgeborne lebendige Jungen zur Welt und ist größtenteils mit Wappen und Titeln bedeckt. Die gemeinen Leute <Kanaille> sind nur eine Seitenlinie des echten Menschenadels: denn sie haben nur Haut und Knochen, niedrige Gesinnungen, essen im Schweiß ihres Angesichts ihr Brot, können sich nicht hoch aufschwingen; sie gebären viele Jungen und säugen sie selber. So groß der Unterschied zwischen Adel und Kanaille ist, so waren doch einige Naturforscher blind genug, selbigen ganz und gar zu leugnen und zu behaupten: alle Menschen, frei geboren, sind ein adliges Geschlecht. "

 

 

*

 

 

Zur zweiten Auswanderungswelle deutscher Schriftsteller kam es in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, sie dauerte an bis zu einer allgemeinen politischen Amnestie 1866. Friedrich Wilhelm IV., der 184o auf den preußi­schen Thron kam, enttäuschte die Erwartungen eines Kurswechsels, regierte im Gegenteil mit noch grö­ßerer Härte als sein Vorgänger Friedrich Wilhelm III. Ihren Höhepunkt erreichte die Emigra­tionswelle nach der verlorenen Revolution von 1848.

 

Einer der ersten der zweiten Emigrantengeneration war der Schriftsteller Georg Herwegh (1817-1875)Georg Herwegh, der bereits 1839 in die Schweiz flüchtete, um keinen Militärdienst leisten zu müssen. Herweghs Flucht war eine politische Entscheidung. Er äußerte dazu: "Deserteur?- 'Mit Stolz. Ich habe des Königs Fahne,/ Die mich gepreßt, mit des Volks soldlosem Banner vertauscht.'"

 

Georg Herwegh erlangte große Popula­rität durch seine 1841 erstveröffentlichten Gedichte eines Lebendigen. Als Freiheitssänger unternahm er eine triumphale Reise durch Deutschland, wurde in einer Audienz sogar von Friedrich Wilhelm IV. empfangen und forderte bei dieser Gelegenheit mehr Liberalität, was zur prompten Ausweisung aus Preußen führte. Herwegh ging zurück in die Schweiz, hielt sich dann zeitweilig in Paris auf, beteiligte sich in Baden aktiv an der Revolution, was ihm nach der Niederlage lange Exiljahre wiederum in der Schweiz einbrachte, bis zur Amnestie 1866.

 

Kein Lyrikband löste im Vormärz ähnlich große Begeisterung aus wie Herweghs Gedichte eines Lebendigen, von denen in fünf Auflagen 1o ooo Exemplare verkauft wurden, die schätzungsweise 2oo ooo Leser fanden. Bezeichnend für Herweghs Gedichte ist eine Mischung aus Freiheitspathos und Kampfaufruf. Herweghs oberstes Schriftstellerprin­zip heißt: Parteilichkeit. Wie Georg Herwegh seine Philosophie der Tat ins Wort umsetzt, zeigt beispielhaft sein Gedicht Aufruf, dessen erste Strophen lauten:

 

"Reißt die Kreuze aus der Erden!

Alle sollen Schwerter werden,

Gott im Himmel wird's verzeihn.

Laßt, o laßt das Verseschweißen!

Auf den Amboß legt das Eisen!

Heiland soll das Eisen sein.

 

Eure Tannen, eure Eichen -

Habt die grünen Fragezeichen

Deutscher Freiheit ihr gewahrt?

Nein, sie soll nicht untergehen!

Doch ihr fröhlich Auferstehen

Kostet eine Höllenfahrt.

 

Deutsche, glaubet euren Sehern,

Unsre Tage werden ehern,

Unsre Zukunft klirrt in Erz;

Schwarzer Tod ist unser Sold nur,

Unser Gold ein Abendgold nur,

Unser Rot ein blutend Herz!

 

Reißt die Kreuze aus der Erden!

Alle sollen Schwerter werden,

Gott im Himmel wird's verzeihn.

Hört er unsre Feuer brausen        

Und sein heilig Eisen sausen,

Spricht er wohl den Segen drein."

 

 

*

 

 

Vier Schriftsteller, die in den vierziger und fünfziger Jahren ins Exil getrieben wurden, hatten als Mitarbeiter der Neuen Rheinischen Zeitung unmittelbar Kontakt mit Karl Marx, dem bekanntlich ja auch, wie ebenfalls ande­ren Junghegelianern, ein Emigrantenschicksal nicht erspart blieb. Es waren dies: Georg Weerth, Wilhelm Wolff, Ernst Dronke und Ferdinand Freiligrath.


Georg WeerthWilhelm Wolff

Ernst DronkeFerdinand Freiligrath


 

Georg Weerth, geboren 1822 in Detmold als Sohn eines Generalsuperintendenten, war gelernter Textilhandelskaufmann, was später einen literarischen Niederschlag fand in den Humoristischen Skizzen aus dem deutschen Handelsleben, die eine bitterböse Karikatur des Frühkapitalismus darstellen. Während Weerth als Kontorist bei einer Textilfirma in der englischen Stadt Bradford arbeitete, unternahm er soziale Studien in den dortigen Elends­quartieren. Die Freundschaft mit Engels und Marx brachte eine weitere Annäherung an den Sozialis­mus. Einerseits Brüsseler Repräsentant eines gro­ßen Textilhauses, wird Georg Weerth andererseits 1847 Mitglied des Bundes der Kommunisten und vertritt mit einer leidenschaftlichen Rede auf dem Brüsseler Freihandelskongreß die Interessen der Arbeiter. 1848/49 leitete Weerth das Feuilleton der Neuen Rheinischen Zeitung, wo auch sein Roman Leben und Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski erschien, der ihm 185o drei Monate Haft im Kölner Gefängnis Klingelpütz eintrug wegen Beleidigung des Abgeordneten der Nationalversamm­lung Fürst Lichnowsky, der sich durch die Titelfigur verunglimpft sah. Nach 185o hielt Georg Weerth endgültig nichts mehr in Deutschland, er unternahm lange Geschäftsreisen nach Westindien und Südamerika und starb 1856 in Havanna auf Kuba.

 

Weerth gelang es, durch seine realen Erfahrungen in den englischen Klassenkämpfen und durch ausgiebige polit-ökonomische Studien, sich von seiner Klasse zu lösen und ein Anwalt der Unterdrückten und Ausgebeuteten zu werden. Weerth, der neben Prosa auch Lyrik schrieb, bleibt in seinen besten Gedichten weder in liberaler Opposition oder radikaldemokratischer Revolutions- begeisterung noch in sentimentaler Mitleidsdich­tung stecken, sondern propagiert in schlichter Sprache den gesellschaftlichen Umsturz, so auch in seinem berühmten Hungerlied:

 

"Verehrter Herr und König,

Weißt du die schlimme Geschicht?

Am Montag essen wir wenig,

Und am Dienstag essen wir nicht.

 

Und am Mittwoch mußten wir darben,

Und am Donnerstag litten wir Not;

Und ach, am Freitag starben     

Wir fast den Hungertod.

 

Drum laß am Samstag backen

Das Brot, fein säuberlich -

Sonst werden wir sonntags packen 

Und fressen, o König, dich!"

 

 

Wie Weerth war auch Wilhelm Wolff ein leitender  Redakteur  der  Neuen  Rheinischen Zeitung. Zuvor hatte er in dem Reportageband Das Elend  und  der  Aufruhr  in  Schlesien  1844  den Weberaufstand beschrieben. Seine Schilderung   lie­fert  exaktes  Tatsachenmaterial,  und  sehr ein­dringlich ist Wilhelm Wolff die Kontrastierung von Arm und Reich gelungen:

 

"Ach! wenn mich doch einer belehren wollte, warum der faulenzende Sohn reicher Eltern, der in Bädern, auf Reisen oder sonstwo schwelgende Besitzer   von   3,   1o   und   1oo  Gütern  und Herrschaften, der müßige Kapitalist, die   'wohlha­bende  Jugend  des  Landes',  der  Major,  Oberst, General, der nach unblutigem Kriegsspiel in langer Friedenszeit  sich  mit  einer  Pension  von  1ooo, 15oo,  2ooo Talern usw.  zurückzieht,  warum diese trotz ihres Nichtarbeitens von Jugend auf dennoch herrlich und in Freuden leben und der fleißige Arbeiter vertiert und verdumpft, aller moralischen und  intellektuellen  Entwickelung  beraubt,  für seine  tägliche  mühsame  Arbeit  von  14  bis  16 langen, langen  Stunden  nicht  einmal  soviel gewinnt, dass er mindestens die Bedürfnisse eines Tieres, die Forderungen des Magens befriedigen kann! Doch ich gehe weiter.

 

Das anfangs nicht allzu große Vermögen der [Webereibesitzer] Zwanziger war in kurzer Zeit zu großem Reichtum angewachsen. Sechs prächtige Gebäude gaben Zeugnis davon. Herrliche Spiegel­scheiben, Fensterrahmen von Kirschbaumholz, Trep­pengeländer von Mahagoni, Kleider- und Wagenpracht sprachen der Armut der Weber Hohn. Bei der letzten Lohnverkürzung sollen die Zwanziger auf der Weber ihre Vorstellung, daß sie nun gar nicht mehr bestehen und selbst nicht mehr Kartoffeln kaufen könnten, geäußert haben, sie würden noch für eine Quarkschnitte arbeiten müssen oder, wie andere sa­gen: die Weber möchten nur, wenn sie nichts anderes hätten, Gras fressen; das sei heuer reichlich gewachsen."

 

Wilhelm Wolffs Lebenslauf in Stich­worten: Geboren 18o9 in der schlesischen Stadt Tarnau, Bauernsohn, Studium der klassischen Philo­logie; 1834-39 Festungshaft wegen politischer Aktivität als Burschenschafter, danach Privatge­lehrter und revolutionär-demokratischer Publizist, 1846 Flucht und Exil in Brüssel; 1851 Emigration nach Zürich, dann in London, seit 1854 in Manchester, wo Wilhelm Wolff zehn Jahre später in äußerst ärmlichen Verhältnissen stirbt.

 

 

*

 

 

Ein  weiterer  Redakteur der  Neuen Rheinischen Zeitung war Ernst Dronke. Er ist wie Wilhelm Wolff ein Mitbegründer der dokumentari­schen  Reportage. Grundlagen  bilden  dabei  oft Prozeßakten oder Zeitungsausschnitte. In seinem 1846 erschienenen Buch   Polizeigeschichten beschäftigt sich Dronke mit dem Amoklauf eines Gendarmen, der einen angetrunkenen Bauern erschoß, nachdem er ihm das Rauchen auf der Straße verboten hatte.  Der  Polizist  wurde  begnadigt  und  kam ungeschoren  davon (wie im Fall Benno Ohnesorg).  In  seinem  im  selben  Jahr veröffentlichten   zweibändigen   Werk  Berlin analysiert Ernst Dronke am Beispiel der Großstadt "Ungleichheit,  Pauperismus und Verbrechen". Der gelernte Jurist Dronke, einer der ersten Kämpfer gegen Klassenjustiz, schreibt dazu:

 

"Der  Grund  der  Verbrechen  ist überall die Ungleichheit und Verderblichkeit der gegenwärtigen Verhältnisse. Es leben Millionen in einem Zustand, der sie gegen alle Rücksichten abstumpft. Millionen, die nicht wissen, wo sie am Abend ihr Haupt niederlegen und wo sie am Morgen das Brot für Weib und Kinder hernehmen sollen. Aus dieser Lage entstehen die Verbrechen der Armen: das Geld, gleichviel ob durch direkte Not oder mittelbar durch Erziehung, ist die Veranlassung dieser Verbrechen. Ebenso bei den weiteren sogenannten Straffälligkeiten gegen Moral und Sitten, Landesgesetze und dergleichen, welche sämtlich durch die obere Leitung, durch die Geldherrschaft bestimmt sind. Welche Gnade nun ist es von der liberalen Geldaristokratie, jenen Armen und unglücklichen, welche sie selbst zu Verbrecher verdammt, nach ihren eigenen Grundsätzen, den Interessen des Besitzes, zu richten! Welche Gerechtigkeit, dieselben vor dem Tribunal zur Ver­antwortung zu ziehen, welches ihr eigenes ist, da es den Gesetzen des Besitzes gemäß richten muß!"

 

Nach dem Erscheinen seines Buches Berlin wird Ernst Dronke in seiner Heimatstadt Koblenz, wo er 1822 als Sohn eines Gymnasialprofessors geboren wurde, verhaftet und in einem aufsehenerregenden Prozeß zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Im Februar 1847 gelingt es Dronke, aus der Festung zu fliehen. Er geht nach Belgien. Seine Beteiligung an der 48er Revolution zwingt ihn erneut ins Exil. Ernst Dronke stirbt 1891 in Liverpool.

 

 

*

 

 

Als eine der schillerndsten Figuren der deutschen Literaturszene des 19. Jahrhunderts erscheint Ferdinand Freiligrath (181o-1876). Der Lehrersohn aus Detmold war in jungen Jahren ein erfolgreich-harmloser Lyriker, der für sein Wohlverhalten seit 1842 vom preußischen König sogar eine Pension von jährlich 3oo Talern bezog. Erst 1844 veröffentlichte er die ersten politischen Gedichte: Mit der Lyriksammlung Ein Glaubensbekenntnis bekannte er sich als Regimegegner. Das Buch wurde verboten, Freiligrath entzog sich der Verhaftung durch Flucht nach Belgien, zugleich kündigte er seine Pension. In Brüssel, der damaligen Emigrantendrehscheibe, schloß Freiligrath Freundschaft mit Karl Marx. Es folgten Exiljahre in der Schweiz und in England, 1848 dann die Rückkehr nach Deutschland und ebenfalls Mitarbeit bei der Neuen Rheinischen Zeitung, nachdem eine kurze Haft wegen Aufreizung zum Umsturz vorausgegangen war. 1851 ging Freiligrath für 17 Jahre ins Exil nach London, wo es zum Bruch mit Marx kam, der ihm kleinbürgerli­chen "Gefühlssozialismus" vorwarf. Später dann endete Freiligrath, amnestiert und mit einem staatlichen Ehrengeschenk versehen, als patrio­tisch-chauvinistischer Dichter.

 

Gerade wegen ihrer einseitigen Betonung des Emotionalen übte die Lyrik Freiligraths eine große Wirkung aus auf die politischen Verhältnisse im Vormärz und während der Revolution. In dem Gedicht Trotz alledem!, das in seinem frech-fröhlichen Tonfall über unverbindliche Mitleidsdichtung weit hinausgeht, spricht sich Freiligraths unverwüstli­cher Gesellschaftsoptimismus aus. Die ersten bei­den Strophen:

 

"Ob Armut euer Los auch sei,

 Hebt hoch die Stirn, trotz alledem!

Geht kühn den feigen Knecht vorbei;

Wagt's, arm zu sein trotz alledem!

Trotz alledem und alledem,     

Trotz niederm Plack und alledem, 

Der Rang ist das Gepräge nur,    

Der Mann das Gold trotz alledem!

 

Und sitzt ihr auch beim kargen Mahl

In Zwilch und Lein und alledem,  

Gönnt Schurken Samt und Goldpokal-

Ein Mann ist Mann trotz alledem!

Trotz alledem und alledem,        

Trotz Prunk und Pracht und alledem!

Der brave Mann, wie dürftig auch,

Ist König doch trotz alledem!" 

 

 

*

 

 

Wenn man Antje Gerlachs umfangreiche Untersuchung Deutsche Literatur im Schweizer Exil, Frankfurt 1975, durchsieht, die nicht einmal Anspruch auf Vollständigkeit stellt, wird die Emigrationsbewegung deutscher Schrift­steller im 19. Jahrhundert erst in ihrem ganzen furchtbaren Ausmaß sichtbar - und sie erscheint wie ein Menetekel des nationalsozialistischen Schriftstellerpogroms.

 

Immer noch wird hierzulande mit schiefem Blick auf Emigranten herabgeblickt. Dazu schreibt Antje Gerlach: "...seit Menschengedenken entledigt man sich unbequemer Gegner dadurch, daß man ihre Motive verdächtig macht. Diese Methode hat besonders gegenüber Emigranten Schule gemacht. Vor der Flucht, d.h. während ihrer politischen Tätigkeit, die die Verfolgung nach sich zieht, gelten sie als Nationalhelden, die ohne Rücksicht auf ihr persönliches Wohlergehen der guten Sache dienen, Leute also, die die Kastanien aus dem Feuer holen. Soweit es angeht, werden sie unterstützt (alles unter der Voraussetzung, daß ihre Ziele auch die Ziele derer sind, von denen sie beurteilt werden); werden sie gefangen, finden sich entschlossene Bürger, die an ihrer Befreiung arbeiten und ihnen bei ihrer Flucht über die Grenze behilflich sind. Kaum sind sie fort, werden sie vergessen..."

 

Das aber soll nicht sein. Die Schriftsteller, die mit ihrem Leben Zeugnis gaben für die ohnmächtige Macht des gedruckten Wortes, die den Popanz Obrigkeit zwar nicht abschaffen konnten, ihn aber auf seine lächerlichste Nacktheit entblößten und Vorkämpfer waren für heute selbstverständliche Bürgerrechte, diese Schriftsteller sind die heimlich Großen der deutschen Literatur.

 

(Geschrieben 1994; unveröffentlicht wegen redaktioneller Zensur.)

 



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